Die evangelische Kirchengemeinde Pfaffendorf in der Zeit von 1918 bis 1945

Das Ende des Ersten Weltkrieges bedeutete für die Evangelische Kirche im Rheinland und besonders auch für die Evangelische Kirchengemeinde Pfaffendorf einen tiefen Einschnitt. Vergegenwärtigen wir uns: Bis zur Französischen Revolution und der Zeit Napoleons hatte es im Bereich unserer Gemeinde so gut wie keine evangelischen Christen gegeben. Mit den Befreiungskriegen und der Eingliederung des Rheinlands als Rheinprovinz in das protestantische Preußen änderte sich das grundlegend. Vor allem mit dem Einzug der preußischen Verwaltung - Koblenz wurde Provinzhauptstadt - und des Militärs - Koblenz wurde Festung, der Ehrenbreitstein galt als das Gibraltar des Nordens -kam eine erhebliche Zahl evangelischer Christen nach Koblenz und in unsere Gemeinde. Zeitweilig galt die Rheinfront in Pfaffendorf und Horchheim als ein besonders attraktives Wohngebiet für höhere Beamte - und die waren meist evangelischen Bekenntnisses. Sowohl die Beamten als auch die Soldaten - wenigstens soweit es das Offizierscorps anging - fühlten sich in besonderer Weise dem preußischen Königshaus, dem Haus Hohenzollern, verbunden. Der König war Ersatzbischof. Wilhelm II. fühlte sich auch so und hat zum Beispiel für sich daraus das Recht abgeleitet, im Gottesdienst die Predigt halten zu können. Auch die Glieder unserer Gemeinde fühlten sich dem Kaiser eng verbunden. So berichtet noch im Jahr 1924 Pfarrer Lohmann rückblickend: "Am 27. Januar 1916 wurde in unserer Kirche besonders feierlich Kaisers Geburtstag begangen. 300 Soldaten nahmen an dem durch einen Bläserchor reich ausgestalteten Festgottesdienste teil." Die Evangelischen empfanden sich als unter dem besonderen Schutz des Königs - und später auch des Kaisers - stehend. Mit der Abdankung von Wilhelm II. und seiner Emigration nach Holland fiel dieser Schutz fort. Gewiß, den Evangelischen war sehr bewußt, daß der Grund der Kirche nicht bei den Hohenzollern zu suchen war. Schließlich glaubten sie nicht an den Kaiser oder König, sondern an Gott und Jesus Christus. Die Floskel, die die Könige bei Erlassen verwandten "Wir, von Gottes Gnaden König von Preußen", wurde weithin sehr ernst, ja oft wörtlich genommen im Sinne einer göttlichen Stiftung, die der Mensch nur im Ungehorsam gegen Gott außer Kraft setzen konnte. Das alles ist für uns heute schwer nachvollziehbar, aber man muß es bedenken, will man verstehen, in welches emotionale "Loch" viele Evangelische mit dem Ende der Monarchie in Deutschland fielen. Es läßt auch eher nachempfinden, warum sie ein solch reserviertes Verhältnis zur Weimarer Republik hatten und meist so begeistert auf Hitler hereinfielen. Jedenfalls war die Frage nach dem Verständnis der Kirche in der Gesellschaft und ihrer Stellung zum Staat eine Frage, die unsere Gemeinde bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder beschäftigt hat.

Zunächst aber ging es im Jahr 1918 darum, die zurückflutenden Soldaten zu versorgen. Das Rheinland mußte entmilitarisiert werden. Die Soldaten zogen über die Brücken aus dem Westen zurück. Viele Militäreinheiten hatten in Koblenz oder auf der rechten Rheinseite ihr Standquartier. Von hier wurden sie in ihre Heimat entlassen. Gar mancher mußte die Hilfe der Bürger und auch unserer Gemeindeglieder in Anspruch nehmen. Auch im Bereich unserer Gemeinde mußten zurückkehrende Soldaten in ihren Familien wieder Fuß fassen. Etwa 50 Gemeindeglieder waren im Krieg gefallen. Die Berufssoldaten hatten ihren Beruf verloren. Das Vermögen der Familien war vielfach aufgezehrt. Besatzungssoldaten kehrten ein. Bald schon verschlimmerte die Inflation die wirtschaftliche Lage der meisten Familien. Pfarrer Lohmann berichtet: "Am 20. Oktober war Landesbettag, am 9. November begann die Revolution. Wochenlang zogen die heimkehrenden Truppen über die Pfaffendorfer Brücke und an unserer Kirche vorbei, die meisten in musterhafter Ordnung und Verfassung, und dann, als der letzte deutsche Soldat ausrückte, war's uns, als fiele ein eisernes Tor zu; wir waren Gefangene der einziehenden amerikanischen Besatzung. Nun gab's wohl allmählich wieder Brot, aber es war Brot der Knechtschaft, bitter für jeden, dem Freiheit und Würde seines Volkes kostbare Güter bedeuten. An Stelle der leiblichen Not trat jetzt die schlimmere sittliche." Und in seinem Rückblick auf das Kirchenjahr 1918/1919 klagt er: "Dunkel wie vor unserm ganzen Volk liegt auch vor unserer evangelischen Kirche und unserer Gemeinde die Zukunft. Nur zwei helle Strahlen fallen in dies Dunkel, Richtung weisend und Mut weckend: der Glaube an die ewige Gottesgnade in Jesus Christus und das Pflichtbewußtsein, dessen Kraft sich mit Überwindung jedes Hindernisses steigert. Solange diese beiden Strahlen uns leuchten, ist uns um die Zukunft nicht bange." Was sollte die Gemeinde tun? Sie versuchte zu lindern, wo sie konnte. Sie organisierte Unterstützungsprogramme für Kinder aus bedürftigen Familien. Solange es die Gemeinde finanzieren konnte, wurden jedes Jahr Kinder aus diesen Familien zur Erholung in eine Ferienkolonie geschickt.

Das Gemeindeleben erneuerte sich. Die unkonventionelle Art der Predigt von Pfarrer Lohmann zog nicht nur die Gemeindeglieder an, sondern auch Besucher aus dem linksrheinischen Koblenz. Zur Gemeinde zählen jetzt, im Jahr 1919, 1300 Gemeindeglieder. Im Pfarrhaus gegenüber der Kirche befand sich der Gemeindesaal, in dem die verschiedenen Vereine tagten, so der Jung-Männer-Verein, der Zweigverein des evangelischen Bundes, der Missions- und der Gustav-Adolf-Verein. Auch der Kirchenchor traf sich dort unter der Leitung des Lehrers Wildberger zu seinen Proben.

Inzwischen verstärkten sich die Gottesdienste in Horchheim. Zunächst fanden sie im Mendelssohn-Stift statt, das die Familie Mendelssohn der Diakonissenanstalt Kaiserswerth überlassen hatte und das als Erholungsstätte für Diakonissen diente. Der Weg nach Pfaffendorf zur Kirche war für ältere Gemeindeglieder zu beschwerlich. Bald jedoch bot sich eine noch bessere Lösung an. In der zum Rhein hin sich erstreckenden Gartenanlage stand das Gartenhaus der Familie Mendelssohn, im Volksmund "die Synagoge" genannt. Dieses Gartenhaus war ein kleines bauliches Juwel, auch wenn es damals in seiner Bedeutung nicht erkannt worden ist. Es war von dem berühmten Koblenzer Baumeister von Lassaulx Anfang des vorigen Jahrhunderts errichtet worden. Er hatte dabei Schlußsteine des alten "Altenberger Hofes" verwandt, der einst dort gestanden hatte. Dieser Hof war einmal Eigentum des Klosters Altenberg im Bergischen Land gewesen. Er versorgte einst das Kloster mit dem damals sehr geschätzten Horchheimer Rotwein. Der Hof war inzwischen verfallen. Seine Steine dienten jetzt dem Neubau - und können noch heute in ihm bewundert werden. Nutzte die Familie Mendelssohn dieses Gebäude als Teehaus? Versammelten sich dort Logenbrüder? Hat Felix Mendelssohn Bartholdy dort bei seinen Besuchen in Horchheim einst geweilt und gar komponiert? Wir können es nicht genau sagen. Möglich ist es. Dieses Gebäude wurde jedenfalls von den Diakonissen nicht mehr genutzt. So wurde es unserer Gemeinde als Gottesdienststätte angeboten. Die Gemeinde kaufte es mit dem dazugehörenden Stück Land. Nach einem notwendigen Umbau wurde es als "Lutherkapelle" am 11. Juni 1922 seiner neuen Bestimmung übergeben. Von da an finden dort bis heute regelmäßig unsere Gottesdienste statt.

Ein weiteres Ereignis aus dem Jahr 1922 muß erwähnt werden, ein Ereignis, das zunächst Routine zu sein schien und sich dann als unwahrscheinlich segensreich und prägend für unsere Gemeinde erweisen sollte: Die Berufung der Diakonisse Anna Schulze zur Gemeindeschwester. Immer wieder hatten Kaiserswerther Diakonissen, die dann im Mendelssohn-Stift wohnten, für einige Zeit Dienst in unserer Gemeinde getan. Es waren immer nur wenige Jahre gewesen. So war es wohl auch bei Schwester Anna gedacht gewesen. In einem ausführlichen Bericht von Pfarrer Lohmann über unsere Gemeinde steht nur der kurze Hinweis: "Kurz danach (gemeint ist die Einweihung der Lutherkapelle) hatten wir wieder eine Freude, die neue Gemeindeschwester Anna Schulze trat ihr Amt an; mit kurzer Unterbrechung konnte sie bis jetzt in hingebender Treue arbeiten und die Liebe der Gemeindegewinnen." Damals hätte niemand gedacht, daß Schwester Anna uns die Treue halten würde bis in ihr hohes Alter, und daß sie sogar ihren Lebensabend in unserer Gemeinde verbringen würde. Bis einige Tage vor ihrem Tod am 10. Dezember 1980 blieb sie bei uns. Sie gehörte einfach zu unserer Gemeinde. Pfarrer kamen, Pfarrer gingen, Schwester Anna blieb. Sie wurde so etwas wie der ruhende Pol in unserer Gemeinde. Ihr segensreiches Wirken war weit über die Grenzen unserer Gemeinde hinaus anerkannt. Wenn Schwester Anna auf der Straße die Hand hob, blieb sogar die Straßenbahn stehen, um sie einsteigen oder aussteigen zu lassen. Und das Erstaunliche: Niemand beschwerte sich, viele jedoch schmunzelten verständnisvoll. In der schweren Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Gemeinde verwaist war, war Schwester Anna diejenige, die in unverrückbarer Treue ausharrte, bei der Bestattung der Toten zugegen war und die Neugeborenen taufte - und das oft, nachdem sie in der Nacht bei Sterbenden ausgeharrt hatte. Es war Scherz und Ernst zugleich, wenn die Menschen sie oft Sankt Anna nannten. Sie war es auch, die in einer Notsituation noch im hohen Alter die Leitung unseres Altenheimes in Horchheim übernahm und den Menschen dieses Hauses das Gefühl des Geborgenseins erhielt. Unsere Gemeinde verdankt ihr wie kaum einem anderen Menschen sehr viel. Das alles begann im Jahr 1922.

In den darauffolgenden Jahren konsolidierte sich das Gemeindeleben. Die Inflation hinterließ ihre Spuren, auch die Weltwirtschaftskrise. Zeitweilig fehlte das Geld, um die Kirche im Winter regelmäßig zu beheizen. Dies konnte dann nur alle 14 Tage geschehen. Ganz unerwartet brachte das Jahr 1932 einen tiefen Einschnitt. Auch hier war zunächst nicht erkennbar, wie tief er sein würde. Zu Beginn des Jahres verstarb unerwartet Pfarrer Lohmann nach kurzer Krankheit. Seit seiner Hilfspredigerzeit im Jahr 1896 hatte er der Gemeinde treu gedient. So stellte Superintendent Keller die Trauerpredigt unter das Bibelwort: "Dafür halte uns jedermann, für Christi Diener und Haushalter über Gottes Geheimnisse. Nun suchet man nicht mehr an den Haushaltern, denn daß sie treu erfunden werden." Pfarrer Lohmann selbst hatte nicht lange vorher in Todesahnung als sein Bekenntnis ausgesprochen: "Herr, ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und aller Treue, die du an deinem Knechte getan hast." (1. Mose 32, 11). Die Achtung, die er sich erworben hatte, kam nicht zuletzt in der regen Beteiligung von Trauergästen auch aus der weiteren Umgebung zum Ausdruck. Pfarrer i. R. Appel, ein in Arenberg wohnender Ruhestandspfarrer, übernahm für einige Zeit die notwendigen Dienste.

Gegen Ende des Jahres 1932 wurde ein neuer Pfarrer in unserer Gemeinde in sein Amt eingeführt: Heinrich Weinmann aus Seelscheid. Das Presbyterium hatte sich von drei Bewerbern, die ihm die Kirchenleitung vorgeschlagen hatte, mit großer Mehrheit für Herrn Weinmann entschieden. Über die Gründe kann nur gemutmaßt werden. Er war bei seiner Einführung 34 Jahre alt. Während seiner Zeit in Seelscheid hatte er sich als ein sehr engagierter Pfarrer gezeigt, der sich vor allem dadurch auszeichnete, daß er auch schwierige Zusammenhänge in - für die damalige Zeit - volkstümlicher Sprache den Menschen darlegen konnte. Er war aufgeschlossen, mit den Erkenntnissen der damaligen Zeit vertraut. Unter dem Titel ‚Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen' hatte er im Selbstverlag Schriften zur Bibel und zu modernen theologischen Fragen in - damals -gemeinverständlicher Sprache veröffentlicht. Wenn man seinen späteren Werdegang bedenkt, lohnt es sich, aus einer dieser Schriften folgendes Zitat anzuführen, das sich auf Heinrich Naumann bezieht, dessen Person in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung ist (Das Neue Testament Seite 31 / 32):

"Heinrich Naumann schildert einmal eingehend ..... die Laufbahn eines eingebildeten Führers, eines ihm wohlbekannten Doktors der Wissenschaft: In seiner Jugend buhlte er mit schmeichlerischen Worten und Witzen um die Gunst des Volkes und verstand es meisterhaft, im Volke den Eindruck des großen "Volksbefreiers" zu erwecken. Erst baute man ihm Ehrenpforten, feierte zu seinen Ehrenjubelnde Feste, holte den jungen Menschen mit Ehrenjungfrauen und Musikchören am Bahnhof ab. Mädchen streuten ihm Blumen; man trug ihn auf den Schultern, machte ihn zum Abgeordneten, schrieb fettgedruckte Berichte über seine ,Führerheldentaten ,im Reichstag, und der ernst denkende Mann, der wie der Verfasser selber vor dem unsinnigen Treiben der Menschenvergötterung warnte oder ihm auch nur fernblieb, wurde als Feind der Partei vom Parteiblatt mit Hohn und Spott verfolgt, bis eines Tages das ganze Unternehmen jämmerlich zusammenbrach. Zerrüttete Familienverhältnisse, getrenntes Eheleben, völlige Verachtung seitens der einstigen Freunde folgten - und endlich das letzte erschütternde Erlebnis: Als der Verfasser 30 Jahre später in einem Bahnhofswartesaal seiner Heimatgegend trat und von einem Freunde mit Namen begrüßt wurde, erhob sich in der Ecke ein alter Mann von ganz heruntergekommenem Äußeren, in abgetragenen Kleidern und schmutziger Wäsche, mit aufgedunsenem Gesicht und triefenden Augen, wankte auf ihn zu und reichte ihm die welke zitternde Hand. ,Ich bin der Doktor - ich wollte meine alten Freunde noch einmal besuchen - ich bin verarmt - nur wenige wollen mich noch kennen - dürfte ich Sie um Hilfe bitten?'" Das veröffentlichte Pfarrer Weinmann im Jahr 1930 als warnendes Beispiel. Am 30. Januar 1933 begrüßte er die Machtergreifung des ,Führers' Adolf Hitler als Geschenk Gottes für das Deutsche Volk.

Doch wir greifen den Ereignissen voraus. Am 4. September 1932 wurde Herr Weinmann als Pfarrer der Gemeinde eingeführt. Im Dezember 1932 waren Wahlen zur Gemeindevertretung. Zwei Listen standen zur Wahl, die "Liste Exner" (benannt nach dem Uhrmacher Exner aus Ehrenbreitstein, dessen Haus in der Hofstraße 264 noch steht, sein Namenszug ist noch immer an der Hauswand über dem ehemaligen Ladenlokal zu sehen), sie waren die "Unpolitischen", und die "Liste Kaiser" (benannt nach dem Regierungsinspektor Kaiser, der auch die Kassengeschäfte der Gemeinde leitete), sie waren die "Deutschen Christen" (1932 !!). Ob diese Liste etwas mit der Wahl von Pfarrer Weinmann zu tun hatte, läßt sich aus den Unterlagen nicht mehr feststellen. Noch konnte jedenfalls die Liste der "Unpolitischen" mehr Stimmen, nämlich acht, auf sich vereinen als die der "Deutschen Christen", die nur vier errangen. Wenige Wochen später aber, nach dem 30. Januar 1933, stellte sich Pfarrer Weinmann ganz in den Dienst der "Deutschen Christen". In seinem Bericht über das Jahr 1933 liest sich das so: "Das große Jahr der nationalen und sozialen Wiedergeburt unseres Volkes konnte an der evangelischen Kirche und Gemeinde, die so tief im Volksleben verwurzelt ist, unmöglich spurlos vorübergehen. Handelt es sich doch bei der nationalsozialistischen Volksbewegung nicht bloß um eine rein politische oder wirtschaftliche oder soziale Strömung, sondern um den elementaren Durchbruch einer deutsch-christlichen Volksbewegung, die das ganze Volksleben neuzugestalten beansprucht. Daß durch diese umwälzenden Ereignisse unsere evangelische Kirche viel stärker in Mitleidenschaft gezogen worden ist als die scheinbar völlig unberührt gebliebenen internationalen kirchlichen Gebilde, dessen haben wir uns nicht zu schämen, sondern darauf dürfen wir stolz sein. Kampf zeugt von Leben. Als Volkskirche wollen wir nicht über oder neben dem Volksstaate stehen, sondern in ihm leben und wirken mit dem ewigen Gotteswort, das uns zur Verkündigung anvertraut ist. Aus dieser klaren Erkenntnis heraus hat sich Presbyterium und Größere Gemeindevertretung einmütig dem Bund der Deutschen Christen angeschlossen." Über die Jugendarbeit der Gemeinde schrieb er lapidar: "Da die Zugehörigkeit unserer Gemeindejugend zu den NS-Jugendverbänden eine gleichzeitige Mitgliedschaft im evangelischen Jugendbund ausschloß, gaben wir unsere verbandsmäßige Jugendarbeit auf in der Hoffnung, daß die Reichskirchenleitung bald im Einvernehmen mit dem Reichsjugendführer eine völlige Neuregelung der Gemeindejugendarbeit treffen wird." Daß Pfarrer Weinmann mit diesen Entscheidungen auf den entschiedenen Widerstand vieler Gemeindeglieder stieß, läßt sein Jahresbericht 1934 erahnen, in dem wir lesen können (und es lohnt sich, den Beginn wörtlich zu zitieren): "Stand unser Gemeindeleben im vorhergehenden Jahr (gemeint ist das Jahr 1933) ganz im Zeichen der nationalsozialistischen Wiedergeburt unseres Volkes, so konnte es nicht ausbleiben, daß die Wühlarbeit der reaktionären Mächte, die ihren Schwerpunkt auf das religiöse Gebiet verlegt hatten, weil sie auf politischem Gebiet aussichtslos geworden war, unsere Gemeinde stark in Mitleidenschaft zog. Kleine Kreise heimlich, aber fieberhaft arbeitender Reaktionäre trugen durch Verbreitung gröbster Unwahrheiten - besonders über die nationalkirchliche Bewegung der Deutschen Christen, welche mit Punkt 24 des Nationalsozialistischen Programms vom positiven Christentum ganzen Ernst macht - starke Verwirrung in die Gemeinde. Um so erfreulicher gestaltete sich die Zusammenarbeit mit den Organen der nationalsozialistischen Volksbewegung. Als Kreisjugendpfarrer vollzog der Ortspfarrer die Eingliederung der evangelischen Jugend der Kreissynode Koblenz in die Volksjugend (gemeint ist die Hitlerjugend). Die Gemeindeschwester durfte mit der Pfarrfrau in den Volkswohlfahrts- und Winterhilfs-Ausschüssen mitwirken. Auf diese Weise konnte auch die Ev. Frauenhilfe im besten Einvernehmen mit den NS-Organisationen ihre Sammlung für die Innere Mission im April und ihr Jahresfest am 2. Advent durchführen. Als Angehöriger der SA-Reserve hatte der Ortspfarrer mehrfach Gelegenheit, bei der Hindenburg-Gedenkfeier am 9. November und bei der SA-Weihnachtsfeier vor kleineren und größeren Kameradenkreisen die Ansprache zu halten. In mehreren Gemeindebezirksabenden in Pfaffendorf Ehrenbreitstein, Horchheim, Niederberg und Urbar versuchte er, alle Gemeindeglieder über den christlich-nationalsozialistischen Charakter der Deutschen Christen aufzuklären. "Am 22. Januar 1935 urteilte Pfarrer Weinmann: Das Verhältnis zur NSDAP sowie zur SA-Reserve und dem Kyffhäuserbund ist vorzüglich." Zu den erwähnten "reaktionären" Kreisen in der Gemeinde gehörte übrigens auch der Sohn des vormaligen Pfarrers Lohmann, der zu der Zeit Theologie studierte und sich auch schriftlich heftig gegen die Lehren der "Deutschen Christen" zur Wehr setzte.

Was aber wollten die ,Deutschen Christen'? Sie selbst formulierten es so (Wille und Ziel der Deutschen Christen, Nationalkirchliche Bewegung): "Die nationalkirchliche Bewegung ,Deutsche Christen' sieht in der Aufspaltung des deutschen Volkes in Religionsgemeinschaften, Konfessionen und Sekten eine Verleugnung Gottes, nach dessen Schöpferwillen alle Deutschen ein Volk sind... Ein Volk - ein Glaube .... Deutschland ist unsere Aufgabe, Christus ist unsere Kraft! ....... Die nationalkirchliche Bewegung ,Deutsche Christen' setzt sich ein für die Überwindung und Beseitigung alles jüdischen und fremdvölkischen Geistes in den kirchlichen Lehr- und Lebensformen und bekennt sich zum Deutschen Christentum als der artgemäßen Religion des deutschen Volkes. Christus ist nicht Vollender des Judentums, sondern sein Todfeind und Überwinder." Die Spannungen in der Gemeinde nahmen durch die Hinwendung des Pfarrers und des größeren Teils des Presbyteriums zu den Deutschen Christen zu. Presbyter traten wegen dieser deutsch-christlichen Einstellung aus dem Presbyterium aus. Wie sehr der Zeitgeist Einzug gehalten hatte, mag folgende Episode erhellen: Ein jüdischer Bürger aus Wiesbaden hatte in Erinnerung an seinen Vetter, der offensichtlich lange als Gleicher unter Gleichen in Pfaffendorf gelebt hatte, auch der Evangelischen Gemeinde die Summe von 1.000,-- RM vermacht. Nach der Kirchenordnung mußte dieses Vermächtnis vom Presbyterium durch einen Beschluß angenommen werden. Dies tat das Presbyterium zunächst mehrheitlich auch. Offensichtlich aber waren die Meinungen darüber sehr geteilt gewesen. Einer der Presbyter trat daraufhin aus dem Presbyterium aus. Seine Begründung: Ein Jude kann nur Böses im Schilde führen, weil er Jude ist. Also kann auch diese anscheinend gute Gabe nur eine böse Gabe sein, weil sie von einem Juden kommt. Schließlich hat dann das Presbyterium erneut verhandelt und die Annahme des Vermächtnisses abgelehnt. Die Summe wurde dem katholischen Pfarrer Delwing zur weiteren Verwendung zur Verfügung gestellt.

Waren auch die Wünsche der evangelischen Bewohner des Hofes Besselich in Urbar, sich der Gemeinde in Vallendar anzuschließen, durch die deutsch-christliche Einstellung der Pfaffendorfer Gemeindeleitung verursacht? Das wird zwar in den entsprechenden Anträgen energisch bestritten, aber damit so hervorgehoben, daß sich der Verdacht einstellt, gerade dies sei einer der wichtigsten Gründe gewesen. Vor allem in Horchheim fand sich eine größere Zahl von Gemeindegliedern, die sich zur "Bekenntnisfront" hielten. Dabei mag die Gegenwart Kaiserswerther Diakonissen im Mendelssohn-Stift eine besondere Rolle gespielt haben. Der Bericht von Pfarrer Weinmann über das Jahr 1935 klingt jedenfalls nicht mehr so enthusiastisch wie der über das vorhergehende Jahr: "Auch im vergangenen Berichtsjahr litt das Gemeindeleben stark unter den religiösen Auseinandersetzungen der Zeit. Auf der einen Seite arbeitete die sog. Bekenntnisfront heimlich weiter und versuchte, sich vor allem in Horchheim einen Mittelpunkt im Mendelssohnstift zu verschaffen. Auf der anderen Seite führte das langsame Anwachsen der neuheidnischen Deutschen Glaubensbewegung (gemeint ist die Bewegung von Frau Mathilde Ludendorff) zu mehreren Kirchenaustritten. Vor allem aber bewirkte die Ungeklärtheit der religiös-kirchlichen Lage in unserem Volke die Abwendung weitester Kreise der Gemeinde vom kirchlichen Leben überhaupt." Trotzdem bleibt Pfarrer Weinmann bei der Beurteilung: "Die Zusammenarbeit mit den Organen des politischen Gemeinwesens und der sie tragenden nationalsozialistischen Volksbewegung gestaltete sich auch weiterhin - bei der rückhaltlos positiven Einstellung der Gemeindeleitung zum Dritten Reiche - vorzüglich."

Im Januar 1937 berichtet Pfarrer Weinmann vom Anwachsen der Glaubensbewegung der "Deutschen Christen". Gleichzeitig teilt er mit, daß er oft von Anhängern dieser Richtung zu Amtshandlungen nach auswärts gerufen wird, während eine Anzahl von Gemeindegliedern, die sich der "Bekennenden Kirche" verbunden fühlen, die Dienste auswärtiger Pfarrer in Anspruch nehmen. Das Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche wird als "äußerlich höflich - innerlich gespannt" beschrieben. Es ist der letzte noch verfügbare Bericht.

In den folgenden Jahren wandte sich Pfarrer Weinmann immer stärker seiner Arbeit bei den Deutschen Christen zu. Sie brachte ihm nicht nur Freude. Oft fühlte er sich übergangen und ausgetrickst. Doch er stand treu zur Bewegung, arbeitete sogar in der Zentrale in Thüringen mit an der Gestaltung eines eigenen Gesangbuches. Auch mit den Parteiorganen hatte er Ärger. Konfirmanden wurden von Hitlerjungen belästigt. 1938 beschwert er sich beim Gauleiter - übrigens mit der vertraulich klingenden Anrede: "Mein Gauleiter". In diesem Zusammenhang charakterisiert er die Zielsetzung seines Konfirmandenunterrichts mit folgenden Worten: "Obwohl ich wie mein Kamerad Pfr Wolfrum in meinem Pfarrunterricht nichts Jüdisches behandle, sondern die jungen deutschen Menschen von der nationalsozialistischen Weltanschauung aus an die letzten Fragen heranzuführen mich bemühe..." Zugleich erfahren wir in diesem Brief, daß Pfarrer Weinmann im ersten Weltkrieg als Soldat im Westen gewesen war und 1919 freiwillig gegen die Spartakisten in Stuttgart, Augsburg und München gekämpft hatte. Über seine Einstellung zum Nationalsozialismus lesen wir: "Ebenso habe ich mich... als Parteigenosse stets bemüht, den Aufgaben des Nationalsozialismus in meinem Pfarramt gerecht zu werden und mir dabei die Gegnerschaft aller politischen Gegner unserer Partei zugezogen." Und weiter: "Wir, die wir unsere ganze Lebensaufgabe darin sehen, das, was Christus wirklich gewollt hat, mit der nationalsozialistischen Weltanschauung organisch zu wirklichem Dienst an der Seele des Volkes zu verbinden..."

Es sind für ihn - so scheint es wenigstens - nicht nur Lippenbekenntnisse. Er steht hinter dem, was er sagt. Als sich für ihn im Zusammenhang der Sudetenkrise die Möglichkeit eröffnete, vom Wehrdienst befreit zu werden, bat er darum, dies nicht zu tun. Auch zu Beginn des Zweiten Weltkrieges verzichtete er auf die Freistellung und ging als Soldat zur Wehrmacht. Dort jedoch erkrankte er und wurde nach einiger Zeit aus gesundheitlichen Gründen vom Wehrdienst freigestellt. Dabei ist es dann auch geblieben.

Die Spannungen in der Gemeinde nahmen wie in der ganzen Kirche zu. Während Pfarrer Weinmann sich um Angehörige der Deutschen Christen kümmerte - sie nannten ihre Gottesdienste oft nicht mehr Gottesdienste, sondern Gottesfeier - sammelten sich in Horchheim Gemeindeglieder der Bekennenden Kirche, die Pfarrer Winterberg aus Koblenz betreute. Pfarrer Weinmann und Pfarrer Winterberg fanden ein Abkommen, nach dem Pfarrer Weinmann Zusammenkünfte der Deutschen Christen in Gemeinderäumen in Metternich halten konnte, während Pfarrer Winterberg im Erdgeschoß der Lutherkirche - das Mendessohnstift war zwischenzeitlich von der Diakonissenanstalt Kaiserswerth verkauft worden - in Horchheim Gottesdienste mit Angehörigen der Bekennenden Kirche feiern durfte. So ist es wohl auch bis zum Ende des Krieges geblieben. Der Zweite Weltkrieg brachte tiefe Einschnitte. Eine immer größere Zahl von Männern wurde eingezogen. Auch Pfarrer Weinmann wurde, wie schon berichtet, Soldat und als Kriegspfarrer eingesetzt, nach einem Jahr aber aus Gesundheitsgründen entlassen und auch bis zum Ende des Krieges nicht erneut einberufen. Er versuchte, mit Soldaten, die an der Front waren, Kontakt aufrecht zu erhalten. Dabei war ihm ganz offensichtlich daran gelegen, den Kampfes- und Siegeswillen der Soldaten zu stärken. In einem Brief, dessen Durchschrift erhalten ist und der nach den Zeitangaben auf Ende 1943 zu datieren ist, können wir lesen: "Und wenn ich zur Zeit aus Gesundheitsgründen militärisch nur noch arbeitsverwendungsfähig geschrieben bin, so möchte ich wenigstens im Herzen in gleichem Schritt und Tritt mit dabeisein, wo der Herrgott sich dem Frontsoldaten im höchsten Gottesdienst des Opfers immer tiefer erschließt, wie mich Ihr lieber Brief miterleben ließ ... Nun ist ja die Zeit der schwersten Bewährung gekommen, vor allem durch den Verrat Italiens, und wir wissen nicht, ob der Tiefpunkt schon erreicht ist. Entscheidend aber ist in dieser Bewährung allein, was wir alle in unserem Volk gläubig aus unserem Schicksal machen. Wo die ängstlich am Ufer des Schicksalstromes Abwartenden und die innerlich dem Neuwerden unserer Zeit feindlich und mißtrauisch, ja schadenfroh, Gegenüberstehenden nur klagen, unken, meckern können, da schaut der Glaube, der sich dem Strom anvertraut hat, den lebendigen Gott am Werk; der mit uns durch das Kreuz in den Sieg des Lebens schreitet. Wer da meint, daß der Führer sich die Initiative aus den Händen habe reißen lassen und daß sich nun das Geschehen vor 25 Jahren (gemeint ist das Ende des Ersten Weltkriegs) wiederholen werde, kennt weder den Führer noch den Gott, der hinter ihm steht. Wie sehr er auch heute noch den Feind zu überraschen weiß, hat er erst jetzt durch die Befreiung des Duce bewiesen. Aber das verstehen nur Menschen, die selber in tiefster Seele treu sind. Und treu sein heißt deutsch sein. Er wird uns noch größere Überraschungen erleben lassen, wenn seine Stunde gekommen ist, d.h. die Stunde, die er immer mit nachtwandlerischer Sicherheit als Gottes Stunde zu erfahren und fruchtbar auszuwerten weiß. Denn das ist ja das Adelszeichen des einmaligen, gottgesandten Genies, daß es aus den menschlichen Verlegenheiten immer wieder die großen Gottesgelegenheiten zu gewinnen vermag, jür die die kleinen, glaubenslosen Biertischkritikaster hoffnungslos blind sind und doch wird uns gerade die jetzige Herbstzeit.. zur sicheren Verheißung, daß sie (die Gefallenen) nicht umsonst gefallen sind, sondern daß sie unter uns lebendig weiterwirken als die heiligen Mahner des ewigen Deutschland, an dem der unerforschliche Gott unaufhörlich in der Stille weiterbaut und vor dem wir alle uns einmal über unsere Pflichterfüllung verantworten müssen. Erst von diesem letzten Ziel des Lebens her bekommt ja alles seinen Sinn. Darum wollen wir uns auch weiterhin lieber zu Tode hoffen, als in Unglauben verloren gehen."

Auf der anderen Seite mußte Pfarrer Weinmann auch Enttäuschungen hinnehmen. So schrieb ihm am 17.5.42 ein Oberleutnant aus dem Felde: "Meine Frau N.N. Pfaffendorf Emserstrasse. schrieb mir heute, dass sie beabsichtige meine Tochter N.N. geboren konfirmieren zu lassen. Als Vater des Kindes verbiete ich sowohl die Teilnahme meiner Tochter an dem entsprechenden Unterricht als auch die Konfirmation meiner Tochter Heil Hitler ! N.N. Oberleutnant."

Aus einem anderen Brief erfahren wir etwas über die vielfältige Tätigkeit von Pfarrer Weinmann in dieser Zeit: Er mußte deutsch-christliche Gruppen in einem weiten Umkreis betreuen. Er berichtet: "Es gilt ja nicht nur die deutsch-christliche Kameradschaft im ganzen Gaugebiet rheinaufwärts (Mosel-Hunsrück-Nahe- Glan-Gebiet) kirchlich zu versorgen - auch die Mitarbeit im 'Institut zur Erforschung des jüdischen Einflusses im deutschen kirchlichen Leben' erfordert immer neue Inangriffnahme von Aufgaben..." Daß zu dieser Betreuung nicht nur Taufen, Trauungen und Beerdigungen gehörten, zeigt folgender Vorfall: In der Gemeinde in Bad Kreuznach hatte ein deutsch-christlicher Presbyter nach einem Streit mit dem Superintendenten aus Protest sein Amt niedergelegt. Pfarrer Weinmann schreibt ihm als Geschäftsführer der Landesgemeinde Moselland der Deutschen Christen: "Da Sie als Vertreter der Deutschen Christen dem Presbyterium der Ev. Gemeinde Bad Kreuznach angehören, verbiete ich Ihnen vorerst, Ihr Presbyteramt niederzulegen, bis Kd. Wippermann entschieden hat. Werden Sie gefragt vom Superintendenten oder Presbyterium, was Sie tun wollen, so antworten sie mündlich (nicht schriftlich!), daß sie als Vertreter der Deutschen Christen im Presbyterium nicht von sich aus entscheiden könnten, sondern nach dem bei uns herrschenden Führerprinzip' warten müßten, bis der am schlimmsten Beleidigte, nämlich der im Felde stehende Pfarrer Dr Wippermann, darüber entschieden habe."

Neben all diesen Tätigkeiten widmete Pfarrer Weinmann sich auch einer regen Vortragsarbeit. Am 8.7.42 hält er einen Vortrag unter dem Thema: "Die Christusfrage, aus dem deutschen Erwachen heraus neu gestellt." Darin fragt er u.a.: "Fällt mit dem deutschen Sieg über das konfessionelle Christentum (vor allem über das anglikanische-kalvinistische und römisch-orientalische Judenchristentum) Christus selber - oder sinkt damit nur die jüdisch-reaktionäre Vergiftung und Entartung der in Christus aufgebrochenen Gottesbewegung ins Grab? Sind wir mit der neuen Gottesbegegnung im ,Volk' über Christus hinausgewachsen - oder erleben wir im Wunder der Volkwerdung eine neue Menschwerdung des Gottes Jesu Christi? Können wir auch ohne Christus in Gott verwurzelt unsere deutsche Sendung erfüllen - oder brauchen wir dazu Augen, die überall Christus lebendig am Werke sehen? Haben die deutschen Lebensmächte, die wir als ,Sieg des Glaubens" als ,Gnade Gottes, die sich uns wieder zugewandt hat,' als ,deutsche Osterauferstehung und Pfingstwiedergeburt,' als ,ewiges Reich - Ewiges Deutschland im Zeichen des Hakenkreuzes grüßen, ihr selbständiges Eigenleben - oder stehen und fallen sie, wirklich ernst genommen, mit unserer lebendigen Christusverbundenheit..?" Er kommt schließlich zu dem Ergebnis: "Es muß deutschen Christen auch nach der religiösen Neuordnung, die wir erwarten, die Freiheit gewahrt bleiben, auf alle Art und Weise, die der Gottesschau und dem Gewissen des arischen Menschen und unserer Zeitenwende entspricht, Christus als die bleibende strahlende Gottessonne des Menschenherzens, als inneres Lebenslicht der Gottestreue, die uns neu im deutschen Frühling aufgegangen ist und die am Werke ist zu künden und schaubar zu machen. Auch wir wollen ja gerade nicht zurück zu Christus, d.h. dem historischen Christus und den Dogmen, die den Menschen beweisen wollen, was durch Christus ein für allemal geschehen ist, sondern wollen vorwärts in der Kraft des lebendigen Christus und alles dessen, was von Gott durch ihn an uns geschehen will..." Und folgender Satz mag mit seinen Wortungetümen zeigen, zu welch bizarren Vorstellungen deutsch-christliches Denken fähig war: "Wir dürfen nicht verkennen, daß eben viele, gerade arische Menschen genau so wie der sächsische Helianddichter durch das aufgezwungene Kirchensystem hindurch und durch alle jüdisch-orientalisch-dogmatisch-sakramentarische Verzerrung hindurch mit ihrem frommen deutschen Glaubensblick den Lichthelden Gottes erschauen." Was aber sah Pfarrer Weinmann als Wesensmerkmale seines Glaubens an? Dies wird in einem Brief deutlich, den er im Februar 1942 an einen Soldaten schrieb, der - aus welchen Gründen auch immer - in der römisch-katholischen Kirche kein Zuhause mehr hatte und sich mit dem Gedanken trug, der evangelischen Kirche - und nun gar ihrer deutsch-christlichen Richtung - beizutreten. So schreibt Pfarrer Weinmann: "...ein deutscher Mann, der alles im Gehorsam gegen Gott für sein Volk und seine Heimat einsetzt, hat auch ein Recht auf Heimat in einer deutschen Kirche." Und als Charakteristikum des Evangelischseins stellt er heraus: "Bei uns trägt jeder für sein Leben selber die Verantwortung. Damit er aber dazu immer neue Kraft bekommt, versammeln wir uns immer wieder in unseren Gottesfeiern, wie in Abendmahl, Taufe usw., um Gott, der uns in Christus die Gewißheit gibt, daß seine Treue uns trägt und hält in Freud und Leid. Leben und Sterben, und daß keine Macht der Welt, weder Schicksal noch Schuld, weder äußere noch innere Not uns von ihm und voneinander trennen kann, wenn wir selber ihm vertrauen und einander Treue halten. Beim Glauben kommt es nicht darauf an, was einer alles glaubt, sondern daß er seinen Glauben im Kampf mit allen Nöten des Lebens und in Kameradschaft, Opfersinn, Treue und Pflichterfüllung bewährt. Das allein ist positives Christentum."

Hätte die gut evangelische Erkenntnis, daß Gottes Treue zu seinen geliebten Menschen Grundlage des Lebens ist, Pfarrer Weinmann nicht zu der Einsicht führen müssen, daß diese Treue Gottes auch dem jüdischen Volk gilt, und zwar für alle Zeit? Lag nicht der wirkliche Fehler darin, daß der wahre Grund evangelischen Glaubens- und Menschenverständnisses verlassen war, nach dem die Basis für einen vertrauensvollen, einen "richtigen" Weg in die Zukunft - in traditioneller Sprache der Weg zum Heil - nur das Vertrauen auf das gnädige Handeln Gottes sein kann und niemals im Tun des Menschen, eben "im Kampf mit allen Nöten des Lebens und in Kameradschaft, Opfersinn, Treue und Pflichterfüllung", gegründet ist? War nicht wieder an die Stelle des Vertrauens auf Gott das Vertrauen auf den Menschen getreten, seine Rassenzugehörigkeit, sein vermeintlich "edles" Tun? Und dann stellte sich dieses vermeintlich "edle" Tun auch noch als zutiefst unmenschlich und verbrecherisch heraus.

Genug. Der Krieg nahm seinen Lauf. Die Front rückte nach der Invasion der Alliierten näher. Im Herbst 1944 verließ ein Großteil unserer Gemeinde ihre Heimat und suchte Schutz in Thüringen. Unter ihnen war auch Pfarrer Weinmann. Sein letzter Eintrag stammt - soweit zur Zeit ersichtlich - vom Oktober 1944. Die Gemeinde hier war verwaist. Bei den Menschen in Pfaffendorf blieb Schwester Anna. Sie versah die notwendigen Dienste. Sie blieb auch hier, als die Amerikaner das rechtsrheinische Koblenz und später das Gebiet unserer Gemeinde besetzten. Durch ihr Ausharren und ihre Treue erleichterte sie später den Neuanfang.

Pfarrer Weinmann kam - wen wundert es - nach dem Krieg und nach dem Ende der Nazizeit nicht mehr in unsere Gemeinde zurück. Er blieb zunächst in Apfelstädt in Thüringen, wechselte aber später in die Bundesrepublik und wurde schließlich Krankenhauspfarrer in Stuttgart.

Eine dunkle Zeit hatte ihr Ende gefunden. Die äußeren Schäden waren nicht die schlimmsten: Kirche Pfaffendorf und Lutherkirche Horchheim waren beschädigt, das Pfarrhaus mit dem Gemeindesaal zerstört. Die meisten Gemeindeglieder hatten die Gemeinde verlassen müssen, viele waren gestorben. Schwer lastete die Ungewißheit über das Schicksal der eingezogenen Männer. Viele waren gefallen oder vermißt. Dazu kam der geistliche Schaden. Die Botschaft Jesu war weitgehend verraten worden. Gerade er, der die Grenzen zwischen den Menschen überwunden hatte, gerade er, der mit seinem ganzen Leben, der vor allem mit seinem Leiden gezeigt hatte, daß vor Gott nicht die Unterschiede zählen, die Menschen so gerne machen und auf die sie oft so stolz sind, sondern einzig und allein die unwandelbare Treue Gottes und seine Güte und Gnade, gerade er war mißbraucht worden, um vermeintliche rassische Unterschiede zu Wertmaßstäben zu machen. Es mußte ein Neuanfang gesucht werden, ein Neuanfang, der das Hören auf Gottes Botschaft wieder in den Mittelpunkt stellte, ein Hören, das dann auch zu einer Antwort führen könnte auf die Frage, die der Gemeinde nach dem Ersten Weltkrieg gestellt war: Wie kann eine christliche Gemeinde in Treue zu der ihr anvertrauten Botschaft des Evangeliums ihren Dienst in der Gesellschaft wahrnehmen? Waren die Antworten, die wir nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten, besser?

Quelle: 1899 -1999. Festschrift der Evangelischen Kirchengemeinde Koblenz-Pfaffendorf aus Anlass des 100. Jahrestages ihrer Gründung zum 1. Oktober 1899

 

 

 

 

Vortrag von Pfarrer i.R. Ulf Rademacher im Rahmen der Veranstaltung "Menschen, Nachbarn Schicksale" am 22. März 2019 über Pfarrer Heinrich Weinmann.

Statt einer Einleitung: Ein Tag im Leben des Valentin Heinrich Gerhard Weinmann
Ein Sommersonntag im Juli 1942. Nachdem die letzten Gottesdienstbesucher die Pfaffendorfer Kirche in der Emserstraße verlassen haben, überquert Pfarrer Heinrich Weinmann eilig die Straße und verschwindet im Pfarrhaus gegenüber der Kirche.
Viel Zeit bleibt ihm nicht, denn bereits um 12.05 Uhr geht sein Zug vom Kob-lenzer Hauptbahnhof in Richtung Bingerbrück.
Dort wird er umsteigen und den Personenzug nach Langenlonsheim nehmen. Wenn alles glatt geht, trifft er um 13.54 Uhr am Bahnhof Langenlonsheim ein.
Um 14.45 Uhr will er die Gemeinde in Heddesheim zum Gottesdienst begrüßen, doch da liegt noch eine Stunde Fußweg vom Bahnhof Langenlonsheim bis zur Kirche in Heddesheim vor ihm. Um dennoch pünktlich anzukommen, hat er an die Gemeinde in einem Brief die Bitte gerichtet: ein Konfirmand möge mit dem Fahrrad zum Bahnhof kommen. Er, der Pfarrer, werde dort das Rad überneh-men, und so könne der Gottesdienst in Heddesheim pünktlich beginnen.
Pünktlichkeit war das oberste Gebot des Tages, denn nach dem Gottesdienst wird Pfarrer Weinmann noch den Konfirmandenunterricht halten. Danach, um 17.30 Uhr, will er aufbrechen, um mit Hilfe des Konfirmanden-Fahrrades in Langenlonsheim den Zug um 18.37 Uhr zu erreichen.
Das ist dringend erforderlich, da er in Bingerbrück den Zug nach Frankfurt er-reichen muss, um von dort mit dem Nachtzug nach Jena weiterreisen zu können.
Am Morgen will er an einer Konferenz in Jena teilnehmen.
Ein Sonntag im Leben des Heinrich Weinmann, nur einer von vielen Sonntagen, die ganz ähnlich abliefen.
Wie hat der Mann das ausgehalten?
Ihm half sein fester Glaube: der Glaube, in einer messianischen Zeit, einer großen Zeitenwende zu leben, und er wollte seine ganze Kraft einsetzen, um zum Gelingen dieser Wende beizutragen.
Deshalb war er auch sofort bereit, zusätzlich zu seiner Gemeinde in Pfaffendorf noch die weit entfernte Gemeinde Heddesheim zu übernehmen. Diese Aufgabe war ihm eine Herzensangelegenheit, denn das evangelische Leben in Heddesheim war über drei Generationen hinweg geprägt durch die Weinmanns.
Heinrichs Urgroßvater war dort ein gefeierter Pfarrer und später erfolgreicher Schuldirektor im nahen Bad Kreuznach, deutsch-national und kaisertreu, hoch-dekoriert mit dem Ritterkreuz. Für ihn ließ man im Baedeker Verlag in Koblenz eine eigene Festschrift drucken („Weinmanns Fest“).
Heinrichs Vater war Pfarrer, seine Onkels ebenso, einer davon hatte sogar an der Universität Straßburg promoviert.


1. Kapitel:
Erste Schritte
Im Pfarrhaus in Heddesheim wurde Valentin Heinrich Gerhard Weinmann am 1. November 1899 geboren und am zweiten Weihnachtstag getauft. Am 19. März 1917 erhält Heinrich Weinmann in Bad Kreuznach sein Abiturzeugnis. Er schreibt sich an der Universität Tübingen für das Fach Theologie als Kriegsfrei-williger ein, was bedeutet, dass er zunächst keine Vorlesungen besuchen musste.
Nachdem er als Soldat das Ende des Ersten Weltkriegs und damit verbunden die Niederlage Deutschlands erlebt hatte, studiert er nach seiner Entlassung aus der Reichswehr vom 1. Februar 1919 bis Februar 1921 in Tübingen Theologie. Vom Mai 1921 an setzte er sein Studium an der Universität Bonn fort, das er im April 1923 mit der Ersten Theologischen Prüfung in Coblenz (bis 1926 mit ‚C‘ ge-schrieben) mit der Note ‚gut‘ abschließen konnte.
Das Vikariat leistet Weinmann auf eigenen Wunsch bei Pfarrer Lic. Rosenkranz in Bad Kreuznach ab. Der Pfarrer stellt ihm ein gutes Zeugnis aus, in dem er ei-nerseits den Fleiß des Vikars lobt und seine Art, auf die Menschen zuzugehen, aufgrund derer er „die Liebe der ganzen Gemeinde im Sturm erobert.“ Es über-rascht, wenn Pfarrer Rosenkranz Weinmann dann aber am Schluss bescheinigt, dass er zur Unselbständigkeit neige und sich am liebsten an Vorbilder anlehne.
Ende Oktober 1924 besteht Weinmann das Zweite Theologische Examen mit der Note „recht gut“ und kann nun am 1.1.1925 eine Stelle als Hilfsprediger in Düsseldorf antreten, wo er am 11.1. 1925 in der Christuskirche in Düsseldorf Oberbilk ordiniert wird.
Seelscheid
1926 wird Heinrich Valentin Weinmann durch das Prebyterium der Gemeinde Seelscheid, einem Ort im äußersten Südzipfel des Bergischen Landes, in seine erste Pfarrstelle gewählt.
Die Gemeinde besaß eine große kirchenmusikalische Tradition, die mit dem Na-men Julius Smend (1857-1930) verbunden ist. Smend war seit 1881 Hilfsprediger in Bonn. Vertretungsdienste führten ihn in die vakante Gemeinde Seelscheid, eine kleine Bauerngemeinde im Rhein Sieg Kreis. Er blieb dort wider alle Vernunft hängen. 1885 ließ er sich als Pfarrer wählen und blieb 6 Jahre, in denen er wahre Wunder vollbrachte: Er gründete einen Bauern-Oratorienchor und führte große Werke auf, wobei ihm die Komponisten Arnold Mendelssohn und Engelbert Humperdinck hilfreich zur Seite standen. Julius Smend wurde später Professor und Vorsitzender der Neuen Bachgesellschaft.
Bei der Neubesetzung ihrer Pfarrstelle achteten die Seelscheider darauf, dass der Kandidat über ein fundiertes, musikalisches Wissen verfügte. Es ist also davon auszugehen, dass Weinmann dieses Wissen besaß. In seiner neuen Gemeinde muss sich der neue Pfarrer öfter anhören, dass man die besten Zeiten hinter eigentlich hinter sich habe. Doch mit diesem Urteil gibt sich Heinrich Valentin Weinmann nicht zufrieden. Er hat die Schrecken des Krieges noch kennengelernt, er sieht die allgemeine Orientierungslosigkeit, die auch die Evangelische Kirche erfasst hat. Mit dem erzwungenen Ende der Monarchie hatten die Evangelischen mit dem Kaiser das Oberhaupt ihrer Kirche verloren. Der neuen Demokratie, in der sich die politischen Gegensätze immer
mehr zuspitzten und es zunehmend zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen rechten und linken Gruppierungen kam, stehen viele Protestanten reser-viert gegenüber. Ihre eigene Kirche kann den nach Orientierung suchenden Menschen wenig Hilfe anbieten. Für Heinrich Weinmann ist klar: Der Weltkrieg hat die Deutschen an den Rand des Verderbens gebracht und vielen alles Gottvertrauen aus dem Herzen gerissen.
Den Suchern und denen, die die Suche schon aufgegeben haben, will der junge Pfarrer einen festen Halt bieten. Er verweist die Zweifler und Aussteiger auf das reiche, unzerstörbare Erbe der Evangelischen Kirche, das jedem zur Verfügung steht: die Bibel. Weinmann erklärt: Im Gegensatz zu den Katholiken besitzt je-der Protestant eine Bibel, aber sie wird über Gebühr geschont und ist deshalb arg verstaubt. Nun gilt es, das Erbe neu zu entdecken und erst einmal den Staub, der darauf liegt, zu beseitigen.
Unter dem Titel „Was Du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen“ (ein Goethe Zitat) veröffentlicht Weinmann im Selbstverlag vier Schriften über theologische Fragen, zwei Schriften beschäftigen sich mit der Bi-bel, je eine mit dem Gesangbuch und dem Gottesdienst.
In der Fähigkeit schwierige Zusammenhänge aus dem Bereich der Theologie in verständlicher Sprache zu erklären, zeigt sich Weinmanns große Begabung. Wenn man sich seines späteren Werdegangs bewusst ist, dann überrascht seine Hochschätzung des Alten Testaments als die Bibel der jungen Christenheit. Hier, so führt er aus, redet Gott so anschaulich und lebendig zu uns wie in keinem andern Buch.
Was den Autor besonders fasziniert: Es ist Gottes Wort, das Geschichte in Bewegung bringt, indem es auf Menschen trifft, oft gegen deren Willen. Als Beispiel führt Weinmann Mose und die Propheten an, die sich erst einmal gegen ihre Berufung wehren.
Der rote Faden durch das Alte Testament – so führt Weinmann aus - ist das Handeln Gottes. Dieses Handeln betrifft das Volk Israel, mit dem Gott am Sinai ‚Blutsbrüderschaft‘ geschlossen hat. Weinmann stellt das Verdienst der Propheten heraus, die oft unter Lebensgefahr gegen die Herrscher Israels auftreten, die das Recht in Unrecht verdrehen. Mutig wenden sie sich gegen die Priester, die dem König nach den Mund reden, statt nach dem Willen Gottes zu fragen. – Leider hat Heinrich Weinmann sich später daran nicht mehr erinnert, als er sich selbst bedingungslos auf die Seite eines Herrschers schlug, der Recht in Unrecht verdrehte. -
Am Ende des Alten Bundes steht für Weinmann die ‚Blutschuld‘ Israels: die Hinrichtung Jesu am Passahfest, dem Fest, das an die ‚Blutsbrüderschaft‘ Israels mit Gott erinnert und das nun zum Symbol der endgültigen Verwerfung Israels wird. Kein Jude kann sich nach Weinmann von der Schuld freisprechen: die Ju-den hätten es wissen müssen, denn Jesus hat es ihnen selbst immer wieder gesagt und dennoch haben sie wissentlich das größte Verbrechen gegen Gott begangen.
Der Antijudaismus, der sich hier zu Wort meldet, ist in dieser Form schon lange vor dem Dritten Reich in Deutschland weit verbreitet, auch unter vielen Theologen der beiden großen Kirchen.
Nur zwei Beispiele: Carl Friedrich Zelter (1758 – 1832), Lehrer der jüdischen Komponisten Mendelssohn und Meyerbeer schreibt in einem Brief an Goethe über die Juden: „die gelehrten, schönen und poetischen Töchter Israels, die ihre
Lavendelbouteillen nützen, weil ihr eigentümlicher Geruch nicht der angenehmste ist“
Mark Twain (1835 – 1910) gibt in seinen „Briefe von der Erde“ zu bedenken:
„Hier auf der Erde hassen alle Nationen einander, und jede einzelne hasst die Juden.“
Bischof Theophil Wurm (1868 – 1953) erklärt: „Ich bestreite mit keinem Wort dem Staat das Recht, das Judentum als ein gefährliches Element zu bekämpfen.“
Weinmann verfolgt den roten Faden weiter: Aufgrund der ‚Blutschuld‘ Israels sind die Juden aus ihrem Land vertrieben und verstreut unter alle Völker. Aber trotz ihrer geringen Zahl spielen sie in Wissenschaft und Kultur eine bedeutende Rolle.
Weinmann geht auch persönlich auf Distanz zu Juden, er findet sie allzu anmaßend, denn jeder Jude trage mehr oder weniger offen die felsenfeste Überzeugung mit sich herum, zum auserwählten Volk zu gehören, dem Gott einmal die Weltherrschaft übertragen werde.
Dennoch bleibt das Alte Testament für Weinmann wichtig, denn der rote Faden, das Handeln Gottes an den Menschen durchzieht dieses Buch und der Faden reißt nicht ab, trotz des menschlichen Fehlverhaltens. Die Fußspuren Gottes las-sen sich durch das Alte Testament hindurch bis in unsere Zeit hinein nachverfolgen.
Im Neuen Testament – führt Weinmann weiter aus - klingt die Stimme Gottes durch Jesus Christus am klarsten und reinsten zu uns herüber. Der Pfarrer verweist auf die vielen Bezüge zum Alten Testament, die sich leicht erklären las-sen, da das Alte Testament die Bibel der jungen Christenheit ist.
Nachdem Heinrich Weinmann mit der Bibel das Fundament gelegt hat, ermuntert er die Leser in seiner Schrift „Kirchenjahr und Gottesdienst“, das reiche Erbe der Väter auch im Gesangbuch, Katechismus und Gottesdienst neu zu entdecken und zu nutzen.
Nur der Gottesdienst vermag uns der Liebe Gottes näher zu bringen. Weinmann räumt ein, dass im Gegensatz zu seiner Hochschätzung die Wirklichkeit ein ganz anderes Bild vermittelt: Für viele stellt der Gottesdienst eine fremde Welt dar, zu der sie keinen Zugang finden. Das möchte der junge Pfarrer ändern, indem er sich mit allen Hinderungsgründen auseinandersetzt und praktische Vorschläge für eine Aufwertung des Gottesdienstes macht.


2. Kapitel : Die neue Zeit
Während Heinrich Weinmann in Seelscheid mit großem Aufwand versucht, seine Leser aus ihrer Lethargie zu wecken, indem er ihnen das große Erbe der Juden- und der Christenheit vor Augen führt, suchen zwei junge Pfarrer in Thüringen, im Wieratal, Siegfried Leffler und Julius Leutheuser, nach anderen, ganz neuen Wegen. Sie haben wie Weinmann Kriegserfahrungen, sind ihrer Gesinnung nach völkisch national orientiert und vertreten einen radikalen Antisemitismus. Den Kirchenleitungen der evangelischen Kirche werfen sie Selbstgerechtigkeit, abstrakte Grundsätze und Entfernung vom religiösen Leben der Gemeinden vor. Mit der abstrakten, wissenschaftlichen Theologie stehen sie auf Kriegsfuß. Beide Pfarrer gründen eine Kaderschmiede für Pfarrer und Lehrer im Wieratal (nördlich von Altenburg). Sie kämpfen für eine neue, nationale Kirche und da beiden klar ist, dass sie sich, wenn ihr Kampf Erfolg haben soll, nicht nur auf die geistliche Front beschränken dürfen, suchen sie eine enge Zusammenarbeit
mit der erstarkenden NSDAP, der sie auch beitreten. Es gelingt ihnen in Thüringen eine reformerische Aufbruchsstimmung zu verbreiten. Ab 1932 tragen die Anhänger dieser Richtung den Namen „Deutsche Christen (DC)“. Im Mai 1932 hatten Nationalsozialisten, unter ihnen der Berliner Pfarrer Joachim Hossenfelder, die "Glaubensbewegung Deutsche Christen" (DC) gegründet. Bei Kirchenwahlen im September 1932 in der Altpreußischen Union, der größten Landeskirche, erhalten die DC fast ein Drittel der Stimmen. Die DC werden zur religiösen, kirchenpolitischen Massenbewegung. Mit dem Jahr 1932 hat sich die Evangelische Kirche in Deutschland grundlegend verändert: der aufhaltsame Aufstieg der Deutschen Christen hat begonnen.
Das Jahr 1932 ist ein für Deutschland bedeutsames Jahr: Der bis dahin erfolg-lose Hitler, dessen Putsch 1923 kläglich gescheitert war, hatte 1925 die NSDAP neu gegründet, die bis 1930 aber nur ein Randdasein führte. Doch dann gewinnt sie 1932 so viele Stimmen, dass Hitler 1933 Reichskanzler werden kann. Mit der totalen Machtergreifung Hitlers, 1933, beginnt eine neue Zeit. Diese neue Zeit fordert Entscheidungen, niemanden haben diese Jahre unberührt gelassen. Es gab im Raum der Kirchen - und nicht nur da - Versuchungen, sich der neuen Obrigkeit bis zur Selbstaufgabe anzudienen oder aber den Willen, den Umarmungen zu widerstehen.
Für Heinrich Weinmann beginnt die neue Zeit am 1. Juni 1932. Er hatte sich um eine Pfarrstelle beworben und erhält nun vom Presbyterium der Gemeinde Pfaffendorf bei Koblenz die Nachricht, dass er am 19.6. zu einer Gastpredigt
eingeladen sei. Im Bereich der evangelischen Gemeinde Pfaffendorf, in Aren-berg, hatte sich die neue Zeit schon am 1. Mai 1925 mit der Gründung der ersten NSDAP Ortsgruppe im Raum Koblenz angekündigt.
Am 29. August des gleichen Jahres hielt die Ortsgruppe Koblenz der NSDAP ihre erste Versammlung im evangelischen Gemeindesaal am Altlöhrtor ab. Damals wurden die Mitglieder von vielen noch als ‚Wotansjünger‘ und ‚völkische Großmäuler‘ abgetan.
Am 1. Juni 1931 wurde der Gau Koblenz-Trier (ab 1941 Gau Moselland) gegründet; der Gauleiter, Gustav Simon, hatte seinen Amtssitz in Koblenz.
Die Bewerbung von Heinrich Weinmann auf die Pfarrstelle in Pfaffendorf ist erfolgreich, das Presbyterium wählt ihn mit großer Mehrheit zum Pfarrer der Evangelischen Gemeinde Pfaffendorf. Die Kassengeschäfte der Gemeinde leitet der Regierungsinspektor Kaiser, der schon seit den Anfängen 1932 Mitglied der Deutschen Christen ist. Ob Heinrich Weinmann, der am 4. September 1932 in sein Amt eingeführt wird, damals schon mit den Deutschen Christen sympathissiert, ist nicht zu ermitteln. Jedenfalls ein Jahr später, 1933, im Jahr der Machtergreifung Hitlers tritt der neue Pfarrer am 1. Mai in die NSDAP ein und steht von nun an ganz eindeutig auf der Seite der Deutschen Christen und zwar wendet er sich der radikalen Thüringer Richtung zu. Zum gleichen Zeitpunkt tritt auch sein Vater, Heinrich Weinmann senior in Heddesheim (Nahe) den Deutschen Christen bei.
Heinrich Valentin Weinmann ist sich sicher, dass jetzt die große Zeit gekommen ist, größer als alle Zeiten zuvor. Durch die Verlautbarung des Generalsuperintendent der Rheinprovinz, Stoltenhoff, vom 1. Mai 1933 kann sich Weinmann in dieser Meinung bestätigt fühlen: Es „konnte niemand ahnen, was für ein unge-heures vaterländisches Erleben uns die kommenden Monate schenken würden.“„Wir haben viel Grund, zu dem nationalen Umbruch, in dem wir stehen, mit Dank gegen Gott ein freudiges Ja… zu sagen. „In summa wollen wir uns … freuen, daß in den ‚Deutschen Christen‘ ein stattliches Heer, vielleicht hier und da recht unwirsch, an die Pforten der Kirche klopft.“
Jetzt will Weinmann mit aller Kraft mitgestalten, wenn Deutschland, ja die ganze Welt neu geboren wird. Diese Hoffnung sieht er als berechtigt an, „weil uns im Führer ein so einzigartiger Gottgesandter entstanden ist“. Die Wiederge-burt des deutschen Volkes, die Weinmann zu erleben glaubt, ist nicht nur eine politische, wirtschaftliche, soziale Strömung, sondern eine „deutsch-christliche
Volksbewegung“, die auch die Kirche umkrempelt. Er sieht deshalb in der neuen Zeit unter dem gottgesandten Führer eine große missionarische Chance für die Kirche gekommen.
Deshalb darf die Kirche nicht mehr neben dem Volksstaat stehen, sondern sie muss in ihm leben und darin aufgehen. Die Aufspaltung der Volksgenossen in Religionsgemeinschaften, Konfessionen und Sekten bedeutet eine Verleugnung Gottes. Deutsche Christen setzen sich für ein Deutsches Christentum ein. „Christus ist der Todfeind des Judentums und sein Überwinder.“ Das Presbyterium und die größere Gemeindevertretung in Pfaffendorf schließen sich dem Bund der Deutschen Christen an.
Das beabsichtigte Aufgehen im Staat hat sogleich gravierende Folgen: Weinmann gliedert - als gewählter Kreisjugendpfarrer - die evangelische Jugendarbeit der Kreissynode in die Hitlerjugend ein. Auch die Evangelische Frauenhilfe arbeitet nun mit NS-Organisationen zusammen.
Zunehmend bekommen die Deutschen Christen jedoch Widerstand zu spüren; „die Wühlarbeit der Reaktion“, so Weinmann, führt dazu, dass sich auch in der Pfaffendorfer Gemeinde, Gemeindeglieder - besonders im Ortsteil Horchheim - der ‚Bekenntnisfront‘ zuwenden.
Die Bekennende Kirche (BK), 1934 gegründet, wendet sich gegen die Gleichschaltung: ein Volk, ein Führer, eine Kirche und stellt sich damit gegen die Ideologie der Deutschen Christen. In Pfaffendorf erwirken ihre Anhänger, dass der BK-Pfarrer Winterberg aus Koblenz in der Horchheimer Lutherkappelle, dem Mendelssohnschen Teehaus, Gottesdienste halten darf, im Gegenzug kann Pfarrer Weinmann in Metternich ‚Minderheitengottesdienste‘ für die DC-Anhänger halten.
Die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen, die Weinmann wieder und wieder als vorzüglich bezeichnet, ist in Wirklichkeit keineswegs konfliktfrei. So versucht die Hitlerjugend Konfirmanden vom kirchlichen Unterricht fernzuhalten. Weinmann beschwert sich an oberster Stelle: „Mein Gauleiter“, beginnt sein Brief, in dem er darlegt, wie er doch in seinem Unterricht die jungen Menschen an die nationalsozialistische Weltanschauung heranführe und dabei nichts Jüdisches behandele.
Doch der Gauleiter lässt ihn abblitzen, das Schreiben landet ohne Antwort in ei-ner Ablage; Simon hat mit der Kirche nichts am Hut, er selbst ist längst aus der katholischen Kirche ausgetreten und lässt sich lieber von der Presse ablichten, wie er Steine für den Bau der neuen Thingstätte zum Koblenzer Schloss schleppt.


3. Kapitel: Der neue Glaube
Weinmann kämpft weiter mit aller Kraft für die Ideale der Deutschen Christen. Dazu bietet sich ihm eine neue, bedeutende Möglichkeit:
Am 6. Mai 1939 gründen 11 Landeskirchen (nicht nur DC-Kirchen) im Gasthof der Wartburg ein „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“.
Zu den engsten Mitarbeitern gehört fortan Heinrich Valentin Weinmann.
Das Institut geht zügig daran für das deutsche Volk ein ‚Volkstestament‘ zu er-arbeiten, das die Bibel Alten- und Neuen Testaments ersetzen soll. Die wichtigste Aufgabe bestand in dem Beweis, dass Jesus kein Jude war, weder der Religion, noch der Rasse nach.
Bestrebungen dieser Art gab es seit Anfang des Jahrhunderts: Auf Argumente oder gar Beweise für die arische Abstammung Jesu wird verzichtet. Meistens berufen sich die Autoren auf Houston Stewart Chamberlain, Schwiegersohn Richard Wagners, einen der größten Antisemiten, der schon Ende des 19. Jahrhunderts den galiläischen, das bedeutete für ihn, arischen Jesus propagierte.
Alle diese Theorien haben ihre Wurzel in der uralten Polemik gegen das Judentum. So entstand bereits in der Alten Kirche die Idee einer nichtjüdischen Abstammung des historischen Jesus, um damit die Unabhängigkeit des Christen-tums herauszustreichen. Jesus wurde, je nach Interessenslage, zum Sohn eines griechischen, römischen, gallischen oder germanischen Söldners. Ein arischer Jesus germanischer Abstammung dient nach der Machtergreifung Hitlers als Legitimation für den Kampf gegen das Judentum. Die Tempelreinigung wird gerne benutzt als Legitimation für antisemitische Ausschreitungen.
Weinmann, der sich in seinen eigenen Schriften als Kenner des AT ausgewiesen hat, wird vom Institut mit der Bearbeitung der Geschichtsbücher, Sprüche, Prediger und Hoheslied beauftragt. Schon im März 1940 kann das Institut in einem Festakt in der Lutherstube in Wittenberg (Weinmann war persönlich zugegen) das neue, von jüdischen Traditionen befreite Volkstestament vorlegen. „Die Botschaft Gottes“
1941 erscheint ein neuer Katechismus, der die Lehre der Deutschen Christen zusammenfasst. Heinrich Weinmann ist einer der acht Autoren. Jesus wird darin zum Heiland der Deutschen erklärt, der wie die Deutschen alles Jüdische be-kämpft. Die Einheit des Volkes erfordert eine Glaubenseinheit über Konfessionen hinaus, eine neue Glaubensgemeinde. Im Katechismus wird deshalb ein neues Glaubensbekenntnis formuliert:
Gott, der Lenker aller Völker und Menschen, steht im Mittelpunkt, Glaube ist Glaube an Gott, nicht an Jesus. Jungfrauengeburt, Leiden, Auferstehung und Himmelfahrt können entfallen. Jesus ist nicht mehr Lamm Gottes, sondern Märtyrer, Bruder der Menschen. An die Stelle der Kirche tritt die glaubende Volks-gemeinde. Die Zehn Gebote werden durch zwölf neue Gebote ersetzt: Neu sind darin die Reinerhaltung der Rasse, die Mehrung des Erbes der Ahnen, die Eh-rung des Führers und die Opferbereitschaft für das eigene Volk. Der Katechismus wird zur Bekenntnisschrift der Deutschen Christen.
Ein weiteres Arbeitsgebiet findet Heinrich Valentin Weinmann im Arbeitskreis ‚Religionspädagogik‘ des Instituts. Konfirmanden- und Religionsunterricht müssen neu ausgerichtet werden. Die vielen so einprägsamen "Viehhändler- und Zuhältergeschichten" des Alten Testaments müssen endlich ganz aus dem Unterricht verbannt werden. Die Gefahr des Judaisierens im Religionsunterricht ist durch die Dominanz von AT-Geschichten entstanden. Sie sind unwichtig, denn alle alttestamentlichen Bezüge auf Jesus im Neuen Testament sind reine Erfindungen. Wo sich das Jüdische in die Religion einschleicht, werden die Seelen der Kinder beschädigt. Sie kennen sich besser in jüdische Geschichte und palästinensische Kultur aus als in deutscher Geschichte und Kultur.
Der Aufstieg der DC scheint unaufhaltsam, aber die Großkundgebung der Deutschen Christen im Berliner Sportpalast am 13. November 1933 öffnet vielen Gemeindegliedern der evangelischen Kirchen plötzlich die Augen für den wahren Charakter der DC. Vor 20 000 Teilnehmern ruft DC-Gauleiter Reinhold Krause in schrillen Tönen dazu auf, das gesamte Alte Testament mit seiner "jüdischen Lohnmoral" und seinen "Viehhändler- und Zuhältergeschichten" aus der Kirche zu verbannen. Diese Loslösung vom christlichen Glaubensbekenntnis hat Aber-tausende von Austritten aus den DC zur Folge. Hitler sind die Deutschen Christen bald lästig geworden. Denn das große Ziel, ein Volk, eine Kirche, ein Führer, haben sie nicht erreicht. Im Gegenteil, der innerkirchliche Streit, den sie angezettelt haben, passt nicht in sein Konzept. In "Mein Kampf" hatte er bereits seine Verachtung über die "religiösen Reformatoren auf altgermanischer Grundlage" ausgedrückt. Ihre Tätigkeit führe "das Volk vom gemeinsamen Kampf gegen den gemeinsamen Feind, den Juden, weg, um es stattdessen seine Kräfte in ebenso unsinnigen wie unseligen inneren Religionsstreitigkeiten verzehren zu lassen".


4. Kapitel: Der unermüdliche Kämpfer
Als der Krieg ausbricht, stellt Weinmann keinen Unabkömmlichkeitsantrag, den er als Geistlicher hätte stellen können. sondern er folgt im Mai 1940 der Einberufung als Soldat zur Wehrmacht, wird aber nach einem Nervenzusammenbruch schnell wieder entlassen. Nun sieht er es als wichtigste Aufgabe an, zum Militär eingezogene ‚Pfarr-Kameraden‘ aus den Reihen der DC, zu vertreten, denn er fühlt sich, wenn es um das Wohl von DC-Gemeinden geht, zuständig für ‚Gottesfeiern‘ (die neuen Gottesdienste), Amtshandlungen und Konfirmandenunterricht. Er sieht Gefahren auf diese Gemeinden zukommen, wenn sie durch Vertretungspfarrer etwa dem Einfluss der Bekennenden Kirche ausgesetzt werden könnten.
An erster Stelle betrifft das die Gemeinde Heddesheim, aber auch in Pfalzfeld, Kochem, Heyweiler, Waldlaubersheim und Bad Kreuznach tritt Weinmann sozusagen als unermüdlicher Missionar der Deutschen Christen in Erscheinung. Er betont, wenn ein Gemeindeglied in den Gemeinden ohne DC-Pfarrer ein An-liegen habe, sei ihm keine Bahnfahrt zu weit und kein Fußmarsch zu beschwerlich, um seelsorgerlichen Aufgaben gerecht zu werden.
Doch bei allem Eifer muss Weinmann erleben, dass die Front der Deutschen Christen abbröckelt. Ihr Hauptziel, ein Volk, eine Kirche, ein Führer, haben sie nicht erreicht. Die Mitgliederlisten, die Weinmann als Geschäftsführer der DC im Gau Moselland vorliegen, stimmen zunehmend weniger mit der Wirklichkeit überein. Mitgliedsbeiträge und Kollekten erreichen die Zentrale kaum noch. Er selber muss in Koblenz nach eigenen Worten treppauf, treppab laufen, um ei-genhändig Mitgliedsbeiträge zu kassieren. Die schwierigen Verkehrsverhältnisse sorgen zudem dafür, dass Heinrich Weinmann die ‚Gottesfeiern‘ (Gottesdienste) und ‚Heldengedenkfeiern‘ (Trauerfeiern) nur noch selten durchführen kann. Oft wird ihm sogar die Benutzung von Kirchen und Gemeinderäumen verweigert.
Doch der größte Feind sind nicht einmal die Pfarrer der Bekennenden Kirche und ihre Gemeinden, die stärkste Anfeindung kommt aus den eigenen Reihen: Die Deutschen Christen leiden unter der Propaganda der kirchenfeindlichen Gottgläubigen, die das Christentum als Judentum für Nichtjuden abtun. Die Gottesbewegung will die Deutschen aus einer „christlich verpfafften und verjudeten Welt“ befreien. Wenn die Deutschen Christen schon das Alte Testament ab-schaffen und das Neue Testament zusammenstreichen, warum kann man nicht die Wiedergeburt eines ewigen Deutschlands auch ohne Christus erleben?
Weinmann setzt sich mit Vortragsveranstaltungen vehement mit diesen ‚Neuheiden‘ auseinander, indem er beteuert, dass die Deutschen Christen durchaus in der Lage seien, dem arischen Menschen durch alle jüdisch-orientalische Verzerrung hindurch den wahren Heiland der Deutschen vor Augen zu führen.
Trotz seiner ideologischen Verblendung ist Weinmann ein kluger Denker geblieben. Es ist ihm klar, dass sich die Deutschen Christen mit der Arisierung des historischen Jesus keinen Gefallen getan haben. Wenn man Jesus aus seinem jüdischen Umfeld herauslöst, bleibt nicht mehr viel übrig. „Solange uns aber mit Christus weiter nichts verbindet als dankbare Erinnerung an das, was er der Welt und dabei auch uns Deutschen einmal gebracht hat, so hat er jede praktische Bedeutung für uns verloren.“ Weinmann verweist auf Richard Wagner, der mit seinem Drama „Jesus von Nazaret“ versuchte, einen historischen Jesus fern des mythischen Christusgeschehens zu schaffen und damit scheiterte; das Drama blieb ein Fragment.
Der historische Jesus kann nur etwas in uns aufleuchten lassen, was verblasst, wenn wir uns nicht immer neu auf die Suche nach dem mythischen Christus machen. Nun muss Weinmann den reaktionären Konfessionskirchen, die sich weigern, in den Deutschen Christen aufzugehen, zugestehen, dass ihr Erfolg genau darin besteht, dass sie eben diesem mythischen Christus, den Christus des Glaubens nicht verlieren wollen.
Weinmann versucht tollkühn als überzeugter Nationalsozialist das vormals für unvereinbar gehaltene, den Glauben an Christus und an Wotan, zu vereinen. Das gelingt seiner Meinung nach nur, wenn beide Seiten Toleranz üben. Allein die Zukunft kann seiner Meinung nach entscheiden, wer wirklich die Vollmacht von Gott besitzt.
Trotz aller Anstrengungen des Pfarrers setzt eine Austrittswelle aus der Kirche ein: Führende Parteimänner, Angestellte der Gauleitung, Führerinnen im BDM, vor allem SS Mitglieder kehren der Kirche den Rücken. Eltern verbieten Wein-mann ihre Kinder zu konfirmieren.
Auch für seine aufopfernde Vertretungstätigkeit findet er bei den DC Verantwortlichen wenig Dank.


5. Kapitel: Der Weltuntergang
Die neue Zeit geht dem Ende entgegen. Das Kriegsglück wendet sich, doch auch jetzt noch zeigt sich Weinmann in seinem Glauben an das ewige Reich Gottes,
das im Deutschen Reich so sichtbar Gestalt angenommen hat, unbeeindruckt; er schreibt viele Durchhaltebriefe an Soldaten, in denen er erklärt: „Wir können den Herrgott nicht für die Teufeleien der Feinde Deutschlands verantwortlich machen, aber er bleibt unser größter Verbündeter im Kampf um die Neugeburt der Welt. Allein der Führer, dieser einzigartige Gottgesandte ist imstande, das bolschewistische Judentum zu vernichten. Wir Deutsche sind zu Vollstreckern des Weltgerichts berufen.“
Den Zweiflern am Endsieg, die immer zahlreicher werden, hält Weinmann entgegen: „Wer die zweite Niederlage in einem Weltkrieg befürchtet, …der kennt weder den Führer noch den Gott, der hinter ihm steht.“ Der Führer wird alle überraschen, wenn seine Stunde kommt, „die er mit nachtwandlerischer Sicherheit als Gottes Stunde zu erfassen und fruchtbar auszuwerten weiß. Denn es ist ja das Adelszeichen des einmaligen gottgesandten Genies, daß es aus den menschlichen Verlegenheiten immer wieder die großen Gottesgelegenheiten zu gewinnen vermag, für die die kleinen, glaubenslosen Biertischkritikaster hoffnungslos blind sind.“ Der Krieg kann gerade nach den großen Verlusten nur durch einen Sieg über den altbösen Feind beendet werden. Lieber zu Tode hoffen als im Unglauben verloren gehen, muss die Parole lauten.
Aber der Zweifel geht weiter um und lässt sogar viele Nationalsozialisten schwanken wie ein Rohr im Wind. Weinmann muss bedauernd feststellen: „Heute ist…der vom Führer neu erweckte Glaube, der die Gewißheit des äußeren wie des inneren Endsieges in sich trägt, ja sich weit über die Grenzen unserer engen Zeitlichkeit hinaus in die Ewigkeit reckt, die Sache weniger geworden.“ Dem Pfarrer ist klar: „Dieser Krieg darf nicht verloren gehen. Es würde den Weltuntergang bedeuten, denn das Leben auf Erden hätte jeden Sinn verlo-ren.“
Den Konfirmanden, die ihm am Herzen liegen widmet er eine Schrift, die aber nicht mehr gedruckt wird, mit dem Titel „Pfarrunterricht kurz gefaßt“. Die Ju-gendlichen sollen ein Gespür dafür entwickeln, wie man in Niedergang und Auf-stieg des eigenen Volkes die Hand Gottes spüren kann. Die Erfahrung der erleb-ten Geschichte zeigt: „Als wir 1918 nicht mehr arbeiten und kämpfen wollten, ließ Gott uns so tief sinken, daß wir nicht mehr arbeiten und kämpfen durften. Als wir dann zur Besinnung kamen, weil das Leben jeden Sinn verlor und wir wehrlos zugrunde zu gehen drohten, da berief uns Gott den Führer…Uns Deut-schen hat Gott die heilige Aufgabe gegeben das Reich zu bauen.“ Doch im Augenblick stachelt der Teufel die ganze Welt gegen die Deutschen auf und kämpft im Bombenkrieg mit teuflischer Grausamkeit gegen Deutschland. Kann man da
nicht an Gott irre werden? Nein, denn die Jugendlichen können unverzagt sein, „Gott denkt nicht daran, sich das Weltregiment von den höllischen Mächten ent-winden zu lassen.“ Zeichen dafür ist das Wunder, mit dem er den Führer vor den Attentaten gerettet hat, denn Gott verfolgt sein Ziel: „Gott schafft auf Erden sein ewiges Reich und es ist die Aufgabe aller Deutschen, Gottes Reich zu verteidigen.“
Dem drohenden Weltuntergang in Koblenz entzieht sich Pfarrer Weinmann durch die Flucht aus seiner Gemeinde Pfaffendorf. Er beauftragt die Gemeindeschwester Anna mit der Führung des Pfarramts, um sich selbst dann in Sicherheit zu bringen. Er begründet diese Beauftragung einer (nicht ordinierten) Frau mit dem Hinweis auf das Notmandat Luthers, dass, wenn kein Mann zur Verfügung stehe, auch eine Frau das Amt wahrnehmen dürfe.
Superintendent und Konsistorium sind über diese Eigenmächtigkeit Weinmanns empört und fordern die sofortige Rückkehr in die ihm anvertraute Gemeinde Pfaffendorf. Man führt ihm das Beispiel anderer Pfarrer vor Augen (vor allem Pfarrer Winterberg in Koblenz), die in den zerbombten Städten den verbliebenen Gemeindegliedern Beistand leisten.
In Thüringen, wo sich Weinmann durch seine Mitarbeit im Entjudungsinstitut ja gut auskennt, zeigt sich der Flüchtling wenig beeindruckt von den Forderungen des Konsistoriums. In der thüringischen Landeskirche, wo er zahlreiche Freunde hat, wird er mit der vikarischen Verwaltung der Pfarrstelle Apfelstädt (Drei Gleichen) beauftragt und überlebt den von ihm befürchteten endgültigen Weltuntergang, der nach seinen Worten „jedes Weiterleben sinnlos macht“.


6. Kapitel: Das Ende der großen Zeit als Possenspiel
Nun beginnt ein Possenspiel, über das man den Kopf schütteln müsste, wäre der Hintergrund nicht so ernst. Weinmann versichert dem Konsistorium in Düsseldorf gegenüber, er sei nicht aus seiner Pfarrstelle in Pfaffendorf geflohen, sondern einem Ruf aus Apfelstädt gefolgt. Außerdem fühle er sich einer lutherisch geprägten Kirche stärker verbunden. Die Thüringer Kirchenleitung, überwiegend aus DC Mitgliedern bestehend, unterstützt Weinmann, indem man versucht, mit Düsseldorf einen Kompromiss zu erzielen: Weinmann soll Pfarrer seiner Ursprungskirche bleiben und
doch in Thüringen sein Pfarramt ausüben können, indem ihn die rheinische Kirche offiziell als Seelsorger für Evakuierte in Thüringen entsendet.
Doch die rheinische Kirche spielt nicht mit. Sie behandelt Weinmann weiter als Pfarrer der rheinischen Kirche und teilt ihm deshalb am 25.6.1945 mit: „Da Sie auf dem Boden der nationalen kirchlichen Einung Deutsche Christen gestanden haben, untersagen wir Ihnen bis auf weiteres jede Ausübung Ihres Amtes.“
An seinem Geburtstag, am 1.11.1945 antwortet Weinmann mit einem Brief, in dem er seine ‚Flucht‘ verteidigt. „Ich bin nicht auf eigene Faust weggegangen, sondern einer Berufung gefolgt und kann nicht einfach weglaufen.“, er hänge jetzt an Apfelstädt wie an Pfaffendorf.
Weinmann wird daraufhin von der Evangelischen Kirche der Rheinprovinz vor die Alternative gestellt, sich im Rheinland vor einer Spruchkammer zu verantworten oder sein Amt niederzulegen. Heinrich Weinmann legt daraufhin sein Amt als rheinischer Pfarrer nieder
Der neue Präses, Joachim Beckmann, verweist die Thüringer Kirchenleitung auf Weinmanns Vergangenheit als „National-Kirchler extremer Haltung“ hin und fordert ein Verfahren gegen den Pfarrer. Die Kirchenleitung in Eisenach versichert, man werde dem erheblich belasteten Weinmann keine Pfarrstelle übertragen, aber er mache eine sehr gute Gemeindearbeit und die ansonsten verwaiste Gemeinde Apfelstädt wolle ihn behalten, weshalb man sich entschlossen habe, die vikarische Verwaltung zu verlängern. Man will sich aber dennoch vergewissern, ob die rheinische Kirche Weinmann wieder aufnehmen würde, „falls er nach dem Westen strebt.“
Die Leitung der Evangelischen Rheinprovinz bleibt hart. Die Heimatkirche übernimmt Pfarrer Heinrich Weinmann nicht mehr. Mit der Amtsniederlegung ist er aus der rheinischen Kirche endgültig ausgeschieden.
Überstanden hat Heinrich Weinmann das große Weltende, die Niederlage Deutschlands, wie das kleine Weltende, die Entlassung aus dem Pfarrdienst seiner Heimatkirche. Zwar wird er von der Thüringischen Kirche in den Warte-stand versetzt aufgrund seiner Vergangenheit, doch bedingt durch den Pfarrermangel unmittelbar nach dem Krieg, überträgt man ihm im Wartestand weiter-hin die Verwaltung der Pfarrstelle Apfelstädt.
1950 kommt es mit der offiziellen Übertragung der Pfarrstelle Apfelstädt sogar zu einer Festanstellung in der Thüringischen Landeskirche. Hier muss Wein-mann nun das Auftreten des verhassten Bolschewismus in der neugegründeten DDR miterleben.
Noch besitzt die Mehrheit der Bevölkerung eine Bindung an die evangelische Kirche, aber die neu gegründete Sozialistische Einheitspartei Deutschlands nimmt verstärkt den Kampf auf gegen alle religiösen Gruppierungen. Wer sich in der kirchlichen Jugendarbeit engagiert, wird systematisch benachteiligt, der Religionsunterricht wird aus den Schulen verbannt.
Die Gemeinden geraten in eine schwierige Situation, da sie zunehmend mehr Mitglieder verlieren. Viele Bürger verlassen in den folgenden Jahren die DDR über die noch offene Grenze in Berlin, darunter auch drei Kinder Weinmanns. Heinrich Weinmann versucht von seiner Landeskirche eine Freigabe zu erhalten, um in seine Heimatkirche im Rheinland zurückzukehren. Doch Thüringen gibt ihn nicht frei und auch das Rheinland blockt ab.
Am 17.11.1959 verlässt Heinrich Weinmann mit seiner Ehefrau und dem verbliebenen Sohn Apfelstädt und gelangt über Berlin nach Württemberg. Zum zweiten Mal hat er sich damit ohne Genehmigung seiner Kirchenleitung von ei-ner ihm anvertrauten Gemeinde entfernt. Die Thüringer Landeskirche stellt noch im gleichen Monat alle Zahlungen ein und verweigert dem Pfarrer auch die Freigabe, um die er bittet.
In Württemberg findet Weinmann Fürsprecher in zwei ihm bekannten DC Pfarrkameraden, die sich bei Oberkirchenrat Pressel, dem Leiter des Evangelischen Hilfswerks, für ihn einsetzen. Pressel verwendet sich von da an mit großer Beharrlichkeit für eine Anstellung Weinmanns. Auch Pressel ist belastet als Mitglied der NSDAP und der Deutschen Christen. Als das NS Regime allerdings versuchte, sich in die Belange der Kirchenleitungen einzumischen, wechselte Pressel die Seiten, blieb aber in Kontakt mit den DC.
Der Oberkirchenrat, der nach dem Krieg nicht mehr der Kirchenleitung angehört, hat für Weinmann auch schon eine Beschäftigung in seinem Zuständigkeitskreis Diakonie gefunden: als Vertretungspfarrer in der Krankenhausseelsorge. Die württembergische Kirchenleitung stimmt zu: Weinmann kann probe-weise und jederzeit widerruflich ein befristeter Dienstauftrag erteilt werden.
Die Kirchenleitung in Düsseldorf nimmt diese Entwicklung mit Befremden zur Kenntnis und betont, dass sie angesichts der Vergangenheit Weinmanns diese Entscheidung nicht mittragen könne.
Pressel bemüht sich - weiterhin vergeblich - um eine Freigabe des Pfarrers in der Thüringer Kirche und gleichzeitig plädiert er wieder und wieder für eine feste Anstellung in der Württembergischen Kirche mit dem Erfolg, dass die
Kirchenleitung den Beschluss fasst, Weinmann weiterhin befristet auf unbestimmte Zeit mit monatlicher Kündigungsmöglichkeit in der Krankenhausseel-sorge zu beschäftigen.
Weinmann kann seit Oktober 1962 aus gesundheitlichen Gründen seinen Dienst nicht mehr wahrnehmen und geht in den Ruhestand. Die letzte Eintragung in seiner Personalakte in Stuttgart lautet: „Veröffentlichung im Amtsblatt erübrigt sich“.


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Als Quellen dienten
- Briefe, amtliche Schreiben und Synodalberichte aus dem Archiv Der Evangelischen Kirche im Rheinland, Archivstelle Boppard
- Weinmanns gedruckte und nicht gedruckte Werke sowie die Personalakte aus dem Archiv Der Evangelischen Kirche im Rheinland, Archivstelle Düsseldorf
- die Personalakte Weinmann aus dem Landeskirchlichen Archiv Stuttgart
Vortrag von Pfr. i.R. U. Rademacher am 22.3.2019 in der Evangelischen Kirche Koblenz-Pfaffendorf im Rahmen des Gedenkprojektes "Menschen, Nachbarn, Schicksale“